Jugendredewettbewerb 2023: Wie ist das mit den Noten, Helena Wierer?

Hast du dir schon mal Gedanken gemacht über unser Notensystem? Helena Wierer hat sich intensiv damit auseinandergesetzt und beim Jugendredewettbewerb eine beeindruckende Rede darüber gehalten – und gewonnen!

Sie hat sich bereiterklärt, mir ein Interview zu geben. Im Folgenden sprechen wir über ihre Teilnahme am Redewettbewerb, ihre Gedanken zum Digitalen Register und was Noten mit uns so anstellen. In kursiver Schrift findest du zwischen den Interviewteilen auch Auszüge aus ihrer Rede. Viel Spaß beim Lesen!

Du hast den diesjährigen Jugendredewettbewerb gewonnen – herzlichen Glückwunsch! Möchtest du zu Beginn etwas über dich erzählen?

H: Ich bin 16 Jahre alt und besuche das Sozialwissenschaftliche Gymnasium in Bozen, weil ich immer schon Lehrerin werden wollte. Mein ganzes Leben lang hat mich das Schreiben sehr interessiert, es gefällt mir wahnsinnig gut. Ich habe es immer schon geliebt, Geschichten zu schreiben. Auch das Reden liegt mir, ich habe schon als Kind viel geredet – deshalb kam mir der Jugendredewettbewerb sehr gelegen. In meiner Freizeit lese ich viel, schreibe viel, ich kegle und bin gern draußen in der Natur. Ich bin eine riesige Tierliebhaberin, Haustiere sind das Beste!

Wenn man meine Texte liest, merkt man, dass ich eine ziemlich kitschige Person bin, ich kann sehr kitschig schreiben und mir gefällt das auch [lacht]. Ich beschreibe Dinge einfach gern mit vielen Gefühlen, damit der Text nicht fad wird. Die Jury hat das auch beim Jugendredewettbewerb angemerkt, dass ich mit viel Gefühl geredet habe und man meine Berührung für das Thema gespürt hat.

Wie war der Wettbewerb für dich und wie es sich angefühlt hat zu gewinnen?

H: Ich war so sehr aufgeregt! Meine Klasse war dabei, die haben bei meiner Rede zugehört und mich unterstützt. Ich hatte das Glück, dass ich recht früh um Viertel nach neun schon dran war. Zum Glück – viel länger hätte ich es nicht ausgehalten. Als ich dann vorne stand und anfing zu sprechen, hat sich die Aufregung etwas gelegt. Die Rede habe ich dann doch ein bisschen anders gehalten, als ich sie im Kopf hatte. Mittendrin sind mir neue Sachen eingefallen, die ich spontan eingebaut habe. Ich glaube, das hat ganz gut gewirkt. Einmal habe ich mich auch versprochen, da habe ich gleich gedacht, das habe ich beim Üben besser können. Aber ich habe auch gedacht, so ist das eben – ich habe es nicht für besonders gut gehalten. Ich habe auch nicht damit gerechnet zu gewinnen.

Wir waren mit der Klasse beim Mittagessen, während die anderen noch vorgetragen haben. Wir sind zur Preisverleihung gerannt, da ich auch nicht mit einem Sieg gerechnet habe, dachte ich mir, zu spät zu kommen ist kein Problem. Wir waren wirklich gerade erst in den Saal gekommen, als es hieß: „Und auf dem ersten Platz: Helena Wierer!“ Ich war so überfordert in dem Moment. [lacht]

Wie funktioniert der Jugendredewettbewerb? Muss man etwas einreichen, um sich zu qualifizieren?

H: Man muss sich bis Ende April online auf der Website anmelden. In unserer Schule hingen viele Flyer aus und meine Deutschlehrerin hat in der Klasse gefragt, ob jemand mitmachen möchte. Wenn jemand mitmachen würde, hätte die ganze Klasse eine bessere Chance auf Zuschauerplätze, denn die sind sehr begrenzt. Da die Lehrerin ein bisschen Werbung gemacht hat, habe ich mir gedacht, dass ich eigentlich mitmachen könnte. Sprechen und Schreiben hat mir schon immer Spaß gemacht, deshalb habe ich mich für die Teilnahme entschieden.

Kann man deine Texte irgendwo lesen?

H: Hm nein. Wenn ich klein war, mit neun Jahren, habe ich ein Kinderbuch geschrieben, welches veröffentlicht wurde. Sonst behalte ich meine Texte noch für mich.

Wie schreibst du, wie sieht dein Schreibprozess aus?

Beim Schreiben fange ich einfach an, beim ersten Durchgang verbessere ich nichts, erst beim zweiten Durchgang ändere ich Passagen. Wenn ich einfach durchschreibe, wird es am Ende viel authentischer. Das ist für mich sehr wichtig, dass etwas echt wirkt.

Über welche Themen schreibst du? Sind es Themen, die dir im Alltag begegnen, wie funktioniert dein kreativer Prozess dahinter?

H: Ich schreibe gerne über Themen, die ich auch kritisieren kann. Auf der einen Seite ist es befreiend, meine Kritik aufzuschreiben, und auf der anderen Seite schreibt es sich auch leichter darüber. Ich schreibe entweder über ernste Themen, die mir wirklich wichtig sind, oder ich schreibe Geschichten. Die Geschichten sind für mich rein zum Spaß da, die ernsteren Texte hingegen helfen mir auch dabei, etwas zu verarbeiten. Mit den ernsteren Texten kann ich auch meine Gedanken sortieren und formulieren. Ich schreibe auf jeden Fall verschiedenstes, alle Schreibsorten gefallen mir. Die Einzige, die mir nicht liegt, ist der Bericht. Berichte sind sehr objektiv, also das Gegenteil davon, was ich gerne mache.

Um was geht es in deinem Text für den Jugendredewettbewerb, und was wolltest du damit bewirken?

H: Im Text geht es um Noten und das Digitale Register. Eigentlich weniger um das Digitale Register, das war mehr zum Einstieg in ein größeres Thema gedacht. Ich habe mit dem Digitalen Register begonnen, und habe erklärt, wie es immer mehr Bedeutung gekriegt hat – also im Leben von Schüler*innen, aber auch im Leben von den Lehrpersonen. Ich finde, dass Noten viel zu viel Gewicht gekriegt haben, dass viel zu viel Personen über ihre Noten definiert werden. Für uns Schüler und Schülerinnen gehören die Schule und Noten einfach zusammen. Ich finde es sollte mehr getrennt werden, weil Schule nicht nur die Noten sein sollen. Mir kommt vor, dass es in letzter Zeit etwas verloren ging, dass Schule mehr bedeutet.

Diese App ist in der Lage, den Notendurchschnitt zu berechnen und immer wieder aufzuzeigen. Soweit klingt das sehr praktisch. Wir haben die Noten immer vor Augen, können immer sehen, wo wir gerade stehen. Ein Ansporn. Eine Stütze. Eine Hilfe. Zumindest solange bis die Leute beginnen, immer wieder hineinzuschauen. Nach jeder Note. Nach jedem Schultag. Nach jeder Stunde. Die Hilfe wird zur Sucht. Wir beginnen, den Notendurchschnitt mit anderen zu vergleichen, die Note bis auf die letzte Kommastelle auszurechnen. Verdammt jetzt stehe ich auf keiner 7,3 mehr, ich bin auf die 6,9 hinuntergerutscht. Und wie die Hilfe zur Sucht wird, so wird das Praktische zum Krankhaften. Es ist wirklich krankhaft, welch enorme Bedeutung Noten haben, eine Bedeutung, die eine einfache Zahl auf einem Blatt Papier, nicht wirklich verdient.

Mit dem Digitalen Register wird der Notendurchschnitt ausgerechnet, und man hat jederzeit auch vom Handy aus Zugriff darauf. Zum Beispiel, wenn ich mittags im Bus sitze auf dem Weg nach Hause höre ich jeden Tag das gleiche: „Lass mal unseren Notendurschnitt vergleichen!“ Der eine meint dann er hat eine 9,3, ein anderer meint, er habe leider nur eine 9,1. Ich finde das fast krankhaft.

Ursprünglich wurde es vielleicht ins Leben geholt, damit Schüler*innen, die vielleicht negativ sind, wissen, wieviel ihnen auf eine positive Note fehlt und es ein Ansporn ist. Es hat aber mittlerweile eine andere Bedeutung gekriegt.

Ich habe das Digitale Register in der Schule noch nicht gehabt, kannst du kurz ausführen, wie es funktioniert?

H: Die Hälfte der App ist wie ein normales Register: es werden Hausaufgaben, Tests und Termine eingetragen. Dieser Teil ist super, man hat eine gute Übersicht. Der zweite Teil heißt „Bewertungen“, und da ist es nicht so, dass in jedem Fach die Noten eingetragen werden, sondern wirklich die Noten für jedes Fach im Durchschnitt ausgerechnet und grafisch dargestellt werden. Zudem gibt es von allen Durschnitten noch einen Gesamtdurschnitt.

Ich verstehe, dass es frustrierend ist, wenn man in seinem Notendurschnitt gesunken ist. Man sieht die ganze Zeit nur Zahlen und ist jeden Tag mit ihnen konfrontiert. Die Noten scheinen automatisch auf, sobald man die App öffnet.

Ohne Noten würde kein Schüler und keine Schülerin etwas tun. Sie würden sich für das Nichts-Tun entscheiden, weil es keine Konsequenz geben würde. Keine Rote Zahl im Register. Sie würden die Tests zerreißen. Keinen Respekt gegenüber den Lehrpersonen zeigen. Aus ihnen würden verwöhnte, undisziplinierte und verantwortungslose Menschen werden, die nichts – überhaupt gar nichts – zur Weiterentwicklung dieser Welt beitragen. Genau das müssen die Hintergedanken des Notensystems gewesen sein. Das muss man sich gedacht haben, als man rechtlich festgelegt hat, in welchem Fach es pro Semester wie viele Prüfungen geben soll, welche davon mündlich und schriftlich sind. Und während man all das getan hat, muss man die Lücken dieses Systems übersehen haben. Man muss übersehen haben, dass die Noten der hauptsächliche Grund dafür sind, warum wir junge Menschen, wir, die faule Jugend, die Schule hassen.

Ich habe die Rede auch geschrieben, weil ich immer öfter von Personen mit nicht so hohem Notendurschnitt höre, dass sie sich selbst als dumm bezeichnen. Das finde ich so schade, der Durschnitt der Note sagt nicht über die Intelligenz eines Menschen aus. Durch das Digitale Register hat man die Noten viel zu oft vor sich und das sich miteinander Vergleichen ist zu einfach geworden.

Ich muss dazu sagen, dass ich einen sehr guten Notendurchschnitt habe. Ich wurde von vielen gefragt, ob ich diese Rede halte, weil ich einen niedrigen Notendurchschnitt habe. Aber es ist genau umgekehrt, er ist sehr hoch. Mir war er nie sehr wichtig, aber ich merke, wie Personen um mich herum mich darauf reduzieren. Das hat mich motiviert darüber zu schreiben, damit alle sehen, dass es nicht nur Personen mit niedrigen Noten beeinflusst. Ich dachte, vielleicht ist meine Perspektive darauf dann ganz spannend. Es beeinflusst uns alle, auch die Lehrerinnen und Lehrer, deren Ziel es auch nicht ist, uns nur auf unseren Notendurchschnitt zu reduzieren.

Wenn ich gefragt werde „Wie ist dein Notendurchschnitt?“, dann antworte ich nicht gerne. Wenn ich dann antworte, höre ich immer „warum sagst du das nicht gleich, dein Notendurchschnitt ist ja super“, aber das gefällt mir nicht, dass ich dann automatisch mit dieser Zahl in Verbindung gebracht werde. Das habe ich auch in meinem Text geschrieben, dass ich finde, man sollte mehr differenzieren zwischen einer Person und einer Note.

Denn diese Noten zerren an uns. Sie zerren uns aus. Wenn jemand sagt, dass er sich selbst für dumm hält, weil er auf dem letzten Test ganz oben eine Fünf stehen hat, dann hat dieses System versagt. Wenn Personen Angst haben in die Schule zu gehen, alles für diese Noten aufgeben oder so lange und so stark auf ihre Noten reduziert werden, dass beinahe nichts mehr von ihnen übrigbleibt, dann muss irgendjemand einmal aufstehen und sagen, dass hier etwas falsch ist. Hier ist etwas falsch. War das der eigentliche Sinn der Schule? Dass Eltern ihre Kinder wegen Noten anschreien? Freundschaften zerbrechen, Jugendliche Burnouts bekommen und genau diese Zahlen als einen Grund für ihre Depression angeben. Was war denn der eigentliche Sinn der Schule? Was ist der eigentliche Sinn?

Wie würdest du das System ändern, damit Noten nicht mehr diese negativen Einflüsse auf Schüler*innen haben?

H: Im Digitalen Register würde ich die Durchschnitte abschaffen. Die Durchschnitte stören mich am meisten. Die Noten können gerne bleiben, dann kann man sich den Durchschnitt selbst ausrechnen, wenn man will. Aber dieses Unbewusste, wenn man nur kurz schauen will welche Note man gekriegt hat, sofort den Durschnitt zu sehen – das tut nicht gut. Vor allem den Gesamtdurchschnitt über alle Fächer finde ich ganz schlimm. Ich verstehe, dass es viel Arbeit ist jedem Schüler und jeder Schülerin Feedback zu geben. Ich finde aber auch, dass dies „Feedback-kriegen“ eigentlich der Sinn von der Schule ist. Zu wissen, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen, wo man sich verbessern kann, sich selbst kennen zu lernen – das ist so wichtig. Durch die Noten sind diese Dinge zweitrangig geworden. Der Vergleich ist wichtiger geworden als das Lernen.

Und egal welche man bekommt, das System lässt einen nicht gewinnen. Bei niedrigen Noten geht man automatisch davon aus, dass die Person es zu weniger bringen wird. Hohe Noten hingegen führen zu neidischen Blicken und Hass. Auf einmal rutscht man in einen Konkurrenzkampf, weil man das eine oder das andere Mal eine höhere Zahl auf einem Test stehen hat. Und anstatt zu fragen „Wie geht es dir?“, frage ich doch lieber „Und, welche Note hast du bekommen?“. Und so kann es schon mal passieren, dass wir nach der Schule vor dem Spiegel stehen, hineinschauen und das Gesicht da drinnen ist verzerrt. Wenn wir uns dann die Augen reiben, noch etwas genauer hineinschauen, dann sehen wir dort eine 8,4 stehen. Nein, halt. Eine 8,42. Wir sehen diese Zahl und wir beginnen uns zu fragen, wer ist diese 8,42. Bin das ich? Bin ich diese Zahl?

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Ich weiß, dass es sehr schwierig ist das System zu ändern. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass mehr Personen über dieses Thema nachdenken. Ich habe mit einigen Personen über meine Rede gesprochen, und viele meinten dann, dass das ganze schon eigentlich ein „Luxusproblem“ ist, dass es viel schlimmere Dinge gibt, wie zum Beispiel den Klimawandel. Ich stelle das Thema der Noten auch gar nicht mit dem Klimawandel gleich. Trotzdem finde ich, dass dafür, dass Noten in unserem Leben so präsent sind, viel zu wenig darüber gesprochen wird. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute darüber nachdenken und verstehen, dass es ein Problem ist. Ich finde, wir sollten unseren Umgang mit Noten reflektieren. Ich hoffe, dass ich mit meiner Rede dazu beitragen konnte, dass die Leute darüber nachdenken und in Zukunft Kommentare und Fragen wie „Wie ist dein Notendurchschnitt?“ vermeiden.

Also nein. Nein, ich fürchte, dieses System hat uns nicht gestärkt. Es hat uns nicht zu verantwortungsbewussten und disziplinierten Menschen erzogen. Ich glaube, dass es uns verschreckt hat, verstört, dass es uns den Spaß am Wissen genommen hat. Es hat in uns Neid entfacht und Wut und Angst. Diese Noten haben uns weiter und immer weiter weg vom eigentlichen Sinn des Lehrens gebracht. Schule sollte nicht auf Noten aufbauen. Das „Digitale Register“ sollte nicht jeden Tag bei der Bildschirmzeit angezeigt werden. Mitmenschen sollten nicht als laufende Zahlen wahrgenommen werden, die Person dahinter vergessen. Lehrpersonen sollten nicht als Monster wahrgenommen werden. Wir sind nicht diese Zahl. Genauso wenig wie Sie der Computer sind, der sie ausspuckt. Komischerweise sage ich all das hier, ich stehe hier und rede, obwohl ich genau weiß, dass jedes Wort, jede Bewegung, bewertet werden. Das ist die Ironie der ganzen Sache. Es wird eine Note geben. Ich frage mich jetzt schon, wie gut oder schlecht meine Rede war. Vielleicht ist sie eine 7. Eine 8. Vielleicht eine 7.5.

-Oder, liebe Jury, bin ich diese 7.5?

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